23.01.2021

Wilfried Schröder – Sammler leibhaftiger Realitäten

Wilfried Schröder steht hinter eine Skulptur.
Zwölf Arbeiten von Wilfried Schröder befinden sich mittlerweile Im Landeskunstbesitz von MV.
Ein Raum voller Skulpturen. Mal sind es nur Köpfe. Mal Personen von Kopf bis Fuß.
Ein Kopf in rot-orange-schwarz.
Seine rot/schwarz gefärbten Plastiken aus Holz wie „Markus" machten Wilfried Schröder bekannt.
Skulptur eines nackten Mannes von der Seite. Er steht aufrecht mit geschlossenen Beinen. Die Arme hängen links und rechts herab.
Mehrere seiner Arbeiten stehen im öffentlichen Raum wie hier in Magdeburg.
Skulptur eines nackten Mannes von vorn, fotografiert durch eine Fensterscheibe.
Mehrmals stellte Wilfried Schröder in der Kunsthalle Rostock aus – hier die Bronze „Stehender".

Wilfried Schröder bezeichnet sich selbst als Sammler leibhaftiger Realitäten. Wie er durch genaues Hinsehen die Welt der Kunst für sich entdeckte, über Rituale und Sehnsüchte erzählt er Kultur-MV. 

Wie würden Sie sich als Künstler beschreiben?

Wilfried Schröder: Was ich sehe, ist, was ich verliere. Zeichnung, Skulptur und Foto sind mein externes Gedächtnis, sind für mich die bleibende Anwesenheit des Lebendigen. Sehen ist für mich Dabeisein. Zeichnen ist in meinem Körper, Fotografieren ist in meinen Augen. Fotografieren ist Mitnehmen. Im Zeichnen bin ich körperlich verbunden. Auch meine schnellste Skizze muss Formen benennen. Ein Stift und eine Linie sind der grafische Anfang. Plastiken und Skulpturen beginnen aus Momenten und entstehen, weil ich ein Sammler von leibhaftigen Realitäten bin. Herstellen ist Sehen, dass gestaltend etwas stimmt. Das ist Erfüllung einer Verbundenheit.

Ich wuchs auf in einem Land mit der alles wissenden Ideologie einer einzigen Weltordnung. Dem zu dienen wurde auch die Kunst verpflichtet. Ich wich aus, zog mich zurück. Was ich tat, war meins - mein Reagieren. Diese Art zu arbeiten, ist geblieben.

Ihre Arbeiten sind nun Teil des Landeskunstbesitzes. Was bedeutet es Ihnen?

Schröder: Wohin später mit meinen Arbeiten: Zeichnungen, Druckgrafiken, Fotos, Skulpturen? Das ist eine mitunter aufkeimende, beunruhigende Frage. Öffentliche Sammlungen sind wie Heiligtümer der Beständigkeit, Stätten zur Verehrung von etwas, von Gegenständen, die als wertvoll erachtet werden. Inzwischen drei Skulpturen und neun Zeichnungen von mir im Landeskunstbesitz zu wissen, vereint im Kreis der Arbeiten anderer Künstler, ist wie am Leben bleiben zu können, in einer vertrauten Gemeinschaft. Und das, weil es Institutionen gibt und so lange sie bleiben, es ihr Anliegen ist, etwas aufheben, bewahren und irgendwann zeigen zu können. Solange ein Land da ist als kultureller Ort mit Menschen, die willentlich und emotional engagiert sind, ist seine Kultur und Kunst da.

Welches Ihrer bisherigen Werke bedeutet Ihnen am meisten und warum?

Schröder: Als hätten sie selbst geantwortet, fallen mir zwei Arbeiten ein. Zuerst: „Kleiner alter Mann geht nach Haus“. Ich habe ihn 1958, ich war noch nicht dreizehn Jahre alt, abends in einer Straße in Warnemünde gesehen. Als ich zu Hause war, habe ich alles genau so, wie ich es gesehen hatte, gezeichnet. Die Straße mit den Häusern, den großen alten Bäumen, dem Laternenlicht und dem kleinen alten Mann. Mit schwarzer Lithografiekreide und blauer Tinte.

Das andere Bild, meinen „Teddy“, zeichnete und malte ich mit achteinviertel Jahren 1953. Dieses Bild ist eine Inszenierung. Der Teddy wurde von mir in Tücher gehüllt. Er blickt mich an als Individuum. Im Pelikan-Deckfarbkasten war kein Weiß mehr, Weiß war alle, ich brauchte Weiß, ich ging ins Bad und holte weiße Zahnpasta. Das war, wusste ich damals, mutig und entschlossen. Das Zahnpastaweiß hat bis heute gehalten. Dieses Bildnis ist eine Liebesbeziehung, ein Visavis. Zwei Bilder, zwei Momente, zwei Gefühlserlebnisse. Einmal: Einfühlung in Fremdes. Zum anderen: Allernächste Nähe. Das sind, deute ich, meine Grundlagen.

Es sind also ihre frühen Werke, die Ihnen am meisten bedeuten. Und wer prägte Sie in Ihrem Schaffen?

Schröder: In meiner Kindheit zuerst mein Vater und sein Vater, meine Mutter und ihre Mutter durch Ihre in Mappen aufbewahrten Zeichnungen aus ihren Kinder- und Jugendzeiten. Mein Vater, wie er, wenn ich zusah, mit Bleistift zeichnend auf Papier zauberte. Der Maler Hein Ross aus Warnemünde mit dem Satz seines Professors der Kunstakademie Königsberg: „Ross, halten Sie sich an die Natur“. In diesem Sinn sah ich schon als Zehnjähriger seine Ölbilder, Zeichnungen und Temperas und übernahm, was genaues Hinsehen ist. Ab 1957 bis in meine Jugendzeit der Grafiker Armin Münch mit seinen expressiven Holzschnitten sowie der Bildhauer Wolfgang Eckhardt mit seiner Formgenauigkeit.

Erich Schilling, mein Großonkel mütterlicherseits, Zeichner am „Wahren Jakob“ und am „Simplicissimus“ (dort seit 1908) beeindruckte mich, und das bis heute, durch seine streng komponierten Zeichnungen, meist in quadratische Formate eingebaut: linear, flächig, schwarz-weiß oder farbig. Die Brücke-Künstler Erich Heckel und Karl Schmidt-Rottluff wurden mit ihren Holzschnitten in meiner Jugendzeit anregend durch zwei kleine Nachkriegskataloge der Hallenser Galerie Henning. In der Plastik: Barlach, Lehmbruck, Scharff, Karsch, Seitz, Blumenthal. In den Siebzigerjahren der Bildhauer Ludwig Engelhardt mit seinem Individualitätsrealismus seiner Porträtköpfe. Ebenso in dieser Zeit und in den Achtzigerjahren Hanns Schimansky mit seinen intensiven dichten Grafit-Zeichnungen und Joachim Böttcher mit seiner reduzierten, in die Fläche gelegten Linearität, und der junge Bildhauer Daniel Hillert, seinerzeit in Schmadebeck, mit seinen mit dem Beil gehauenen Holzskulpturen.

Was ich sah, griff ich auf und probierte damit. Die Anlässe meines Beginnens waren immer eigene und die Ergebnisse auch.

Geben Sie mir einen Einblick, wie Ihr Schaffensprozess vonstattengeht.

Schröder: Zeichnen ist Gewohnheit, der ich folge. Zeichnen aufrecht erhalten ist, wie jeden Morgen aufstehen, Waschen, Zähne putzen, essen. Manches erzwingt der Körper. Zeichnen erzwingt er nicht. Und ich will es auch nicht. Wenn Nichtstun nicht gut ist, ist Zeichnen besser als nichts. Was ich einfange, das ist, was ich sehe, und ich sehe, dass ich eingefangen habe nur einen Moment: diesen Kopf, der in die Welt blickt, aus einem fahrenden Bus. Die Individualität eines Bildes gewinnen, das ist für mich ein Moment, der nicht verpasst wurde. Gestaltung ist: Auch das wenigste muss auf dem Blatt ein Ganzes sein.

Als ich den Vesuv und die Stadt Pompeji (erst) im Jahr 2012 auf den Spuren meines Großvaters besuchte, sah ich Skulpturen, Wohnstätten, Ruinen, Tempel, oft innerhalb einer verbauten Landschaft, durch die und um die sich der Autoverkehr wälzte. Sehnsuchtsorte zu touristischen Überfallsorten degradiert. Nur partielles Sehen ließ mich genießen. Und ich sah lebende Schönheit, wie aus antiker Welt stammend. Daher stammte sie auch. Junge Männer im gegenwärtigen städtischen und ländlichen Alltag. Schönheit mit beginnender Artikulierung, die den kleinen Mut aufgesetzten Haarstylings zeigte, den begonnenen Versuch, Individualität zu leben in einer Welt, die wie zu groß geraten ist, in der Skandale und Kämpfe alle Romantik, Beschaulichkeit und Stimmungsversenkung beschädigen und zerstören. Schönseinwollen als individuelles Daseinsmerkmal und Signal einer Sehnsucht, verbunden mit dem Ort des eigenen Selbstseins. Diese Schönheit, die erfunden wird, ist immerhin eine Romantik, die die Liebe belebt.

Arbeiten Sie vorrangig in einer festen Arbeitsumgebung?

Schröder: Meine Arbeitsumgebung besteht aus zwei Arbeitsräumen, einem Grafikraum mit einer Andruckpresse der Firma Paetzold aus dem Jahr 1949, die ich für meine Holzschnitte nutze und einem Raum für Plastik. Außer dem habe ich zwei Aufbewahrungs- und Ausstellungsgebäude, eine hölzerne Feldscheune von 1910 und einen Holz-Neubau von 2011. Bin ich unterwegs, habe ich ein Zeichenbuch bei mir, 25 mal 25 Zentimeter, 66 Blatt, und mindestens einen Fotoapparat. Das Einzige, was ich brauche, sind meine Arbeitsmittel und Materialien. Sodass ich einem Impuls, der Idee in ihm von einer Herstellung eines sichtbaren Produkts, sofort folgen kann. Alleinsein ist dabei zumeist eine Bedingung.

Wann haben Sie sich selbst als Künstler begriffen?

Schröder: In der Kindheit wollte ich im Wald Förster sein, weil ich Tiere, Pflanzen und Bäume mochte. Diese Verbundenheit, projiziert auf den „Förster“, war eine Illusion. Ein Förster muss schießen! Dann wollte ich Biologe werden. Die Oberschul-Biochemie entfernte mich vom Lebendigen der realen Sichtbarkeit. In der zehnten Klasse wollte ich Architekt werden. Mein Bezug waren die Architekten des Bauhauses und Le Courbusier, Rietveld, Niemeyer. Meine mangelnde Begabung für Mathematik schreckte mich ab: Architekten müssen ständig alles statisch berechnen! So blieb mir nur übrig, mich auf das zu beziehen, was ich seit Kindheit machte: Zeichnen, Holzschnitte und Radierungen drucken, Modellieren.

Für das Jahr meiner Bewerbung an der Hochschule für bildende und angewandte Kunst Berlin Weißensee wurde keine Grafikklasse eröffnet. So bewarb ich mich für Plastik, weil ich nach der Maurerlehre nach meinem Abitur mit meinem Facharbeiter kein Maurer bleiben wollte. Das Grafikstudium bezog sich vor allem auf Werbe-Grafik, das wollte ich nicht. Eine Ausnahme war Arno Mohr. Ich ging zu ihm, um Radierungen zu drucken. Drake, mein Bildhauer-Professor, sagte zu mir, dass die Zeit an der Schule nicht ausreicht, um zu lernen, was ein Bildhauer können muss. Damit hatte er meinen Alleingang zu Mohr beendet.

Meine Zufallswahl für die Plastik aber war ein Glück. Weil ich damals wusste, dass ich später „freischaffend“ alles machen kann: Plastik und Grafik. So, wie ich es bisher tat. Als „Künstler“ habe ich mich jahrzehntelang nicht begriffen, nicht benannt, weil ich doch nur das, was ich seit meiner Kindheit tat, fortsetzte. Das Wort „Künstler“ haben auf mich bezogen andere benutzt.

Hand aufs Herz. Wie gehen Sie mit der aktuellen Corona-Situation um?

Schröder: Das zurückliegende Jahr 2020 erlebte ich als eine Möglichkeit der Konzentration und Besinnung, bezogen auf meine Arbeit, meine Situation: Eine Art „Eingesperrtsein“ mit allerdings der Freiheit, arbeiten zu können. Wenn ich die geschlossenen Geschäfte überall sehe, weiß ich den Unterschied zu jenen, die dort arbeiten – und es nicht können. Meine Sorge war und ist, dass andere aktuelle Probleme des Klimas, der aussterbenden Tiere, der Vergiftungen durch Pestizide, der Abholzungen von Regenwäldern und so weiter nicht mehr so wahrgenommen werden. Leugnungen von Klimawandel und der Gefahren durch Corona treffen mich, als würde ich einer unverrückbaren Unzugänglichkeit ohnmächtig ausgeliefert werden können, einer zusätzlich gefährlichen Macht.

Und wie schätzen Sie die Situation der Künstler in MV ein?

Schröder: Wenn landesweite Veranstaltungen wie „Kunst Offen“ und „Kunst Heute“ oder „Grafik Nord“ zeigen, dass ein materieller Aspekt ausbleibt, dann glaube ich nicht an kontinuierliche Einnahmen aufgrund von Ausstellungen oder durch Galerien. Ich kann es schwer beurteilen. Der Künstlerbund in MV ist eine Vereinigung der Künstler, die wichtige Aktivitäten auslöst, wie die Jahresausstellungen, die seit 1991 immer vom Land gefördert werden. Kataloge können entstehen. Somit ist zumindest mitunter ein Dabei-Sein, ein Sichtbarsein möglich. Schloss Plüschow und die Kunstmühle Schwaan, der Kunstraum Testorf, Auriga in Rostock sind Kunstpräsentationen fördernde und ermöglichende Orte. Ich habe gute Erinnerungen an gemeinsame und eigene Ausstellungen. Ich hoffe, andere haben ähnliche Erinnerungen.

Der Künstler Wilfried Schröder

  • 1945 – geboren in Warnemünde                                                    
  • 1964 ­– Abitur
  • 1964-65 – Lehre als Maurer
  • 1965-70 – Studium der Bildhauerei an der KHB-Weißensee
  • seit 1970 – freischaffend in Kühlungsborn
  • 1976 - 79 – Meisterschüler an der AdK der DDR in Berlin bei Ludwig Engelhardt                   
  • bis 1994 – freischaffend in Kühlungsborn und Berlin, danach in Kühlungsborn                   
  • 1994 – Förderpreis des Bildungsinstitutes Steeger & Gross GmbH Warnemünde                             
  • 1995 – Projektförderung der Stiftung Kulturfonds Berlin
  • 1996 – Aufenthaltsstipendium Schleswig-Holstein-Haus Rostock
  • 1997 – Arbeitsstipendium des Landes Mecklenburg-Vorpommern              
  • 2008 – 3. Rostocker Kunstpreis in der Kategorie Freie Grafik
  • 2014 – Rostocker Kunstpreis Kategorie S-W-Fotografie (Nominierung)

Mitglied im Künstlerbund Mecklenburg und Vorpommern e.V. im BBK

Einzelausstellungen mit Wilfried Schröder (Auswahl)

  • 1984 Galerie unter den Kolonnaden, Kühlungsborn
  • 1994 „Figur Kopf Torso“ Kunstverein Roter Pavillon, Bad Doberan
  • 1997 Kunsthaus Guttenberg, Ahrenshoop
  • 2002 Galerie im Kloster, Ribnitz-Damgarten
  • 2019 „Malerei und Skulptur“ (mit Oskar Manigk/Malerei)

Weitere Ausstellungen mit Werken von Wilfried Schröder gibt es hier.