Die Auferstehung von St. Georgen
Altes Fachwerk. Mondäne Villen. Imposante Backsteingotik. Feudale Landhäuser. Moderne Neubauten. Die Architektur des Landes hat in all ihren Stilen manch ungewöhnliche Gebäude hervorgebracht. Hier erzählen wir ihre Geschichte und Geschichten. Den Anfang macht St. Georgen, die größte gotische Backsteinkirche in Wismar.
Ein Fahrstuhl? In einer Kirche? Ungläubig steht Julius vor einem gläsernen Kasten am Ende der Kirchenhalle. Der Junge ist acht und schaut sich gern Kirchen an. Aber so etwas hatte er noch nie gesehen. Ungeduldig wartet er darauf, dass der Glaskasten seine Türen beiseite schiebt. Ein Knopfdruck noch. Dann hebt er ab. Backstein um Backstein zieht eine handbreit neben den Scheiben vorbei. Die Geduld braucht eine halbe Minute. Dann liegt Julius Wismar zu Füßen. Die Altstadt. Der Alte Hafen. Der historische Speicher. Die Wismarbucht. Eine Menge Grün. Und weil die Sicht gut ist, am Horizont auch die Insel Poel. Seit Mai 2014 können Besucher dem 36 Meter hohen Turmstumpf von St. Georgen ganz bequem aufs Dach steigen. Dass die mittelalterlichen Backsteine überhaupt wieder ein Dach tragen, das gilt weit über die Hansestadt hinaus als „Wunder von Wismar“.
Ein stürmischer Anfang
St. Georgen ist die jüngste der drei großen Backsteinkirchen in der Hansestadt. Und die größte. Gottesfurcht und Bürgerstolz haben sie zwischen 1250 und 1600 in die Höhe wachsen lassen. Und fast 80 Meter lang. Ohne Dach wäre in ihr Platz für anderthalb Dresdner Frauenkirchen. Ohne Dach. So hat sich St. Georgen jahrzehntelang ins Gedächtnis von Wismaranern und Touristen gebrannt. 1945, wenige Tage vor Kriegsende, sprengen zwei Bomben der Kirche weite Teile ihres Hauptes weg. Gewölbe stürzen ein, der Westturm verliert sein Obergeschoss. Die Mauern halten. Ohne Schutz vor Wind und Wetter frisst sich der Verfall an ihnen satt. 45 Jahre lang. Dann stürmt ein Orkan heran, reißt dem Querhaus den Nordgiebel weg. Die Steine stürzen auf Wohnhäuser, verletzen fünf Menschen; ein Kind schwer. Nach dieser Katastrophe im Januar 1990 muss eine Entscheidung her: Abriss oder Wiederaufbau? Wiederaufbau! Das „Wunder von Wismar“ nimmt seinen Anfang.
Denkmalstiftung hebt ihr erstes Ost-Kind aus der Taufe
Damals, mitten in der Wende, haben die Menschen in der Hansestadt eigentlich ganz andere Sorgen, als den Wiederaufbau einer zerfallenden Kirche. Die Orkannacht und ihre Folgen machen jedoch bundesweit Schlagzeilen. Die Spendenbereitschaft ist groß. Die Deutsche Stiftung Denkmalschutz ändert sogar ihre Satzung, um der Ruine in der DDR zu helfen. 24 Jahre und 40 Millionen Euro später ist das Mauerwerk gesichert, das Dach neu errichtet, der Westturm aufgebaut, der Boden neu verlegt, jedes Fenster verglast. Fahrstuhl und Aussichtsplattform sind der krönende Abschluss. Die Hälfte des Geldes steuerte die Stiftung bei. Die Rettung der Kirche ist ihr bisher größtes Förderprojekt. Julius hat inzwischen wieder festen Boden unter den Füßen. Doch nicht nur der Aufzug macht St. Georgen zu einem Gotteshaus, das anders ist, als er es von anderen Kirchen kennt. Eigenwillig lugt sie zwischen den Dächern der Altstadt hervor. Ein herausragender Turm, der fehlt von jeher. Sein Stumpf übersteigt das gewaltige Quer- und Hauptschiff nur um wenige Meter – und lässt den Bau umso monumentaler wirken. Und innen? Da ist viel Raum. Für Konzerte, Lesungen, die Jedermann-Festspiele, Ausstellungen, Gottesdienste und Andachten. St. Georgen ist in ihrem zweiten Leben Gotteshaus und Kulturkirche zugleich. Und gerettet. Danke. Obrigado. Grazie. Köszönöm. Multumesc. Thank you. Spasiba. Dziekuje. Arigato. Kiitos. Merci...: Der Aufsteller am Eingang kann dafür gar nicht oft genug danken. Öffnungszeiten
April bis September: täglich 9 bis 17 Uhr
Oktober bis März: täglich 10 bis 16 Uhr Adresse: Sankt-Georgen-Kirchhof Der Eintritt in die Kirche ist frei.
Preise für die Aussichtsplattform: 3 Euro/ermäßigt 2 Euro, Kinder bis 6 Jahre haben freien Eintritt
Der lange Weg zum Welterbe
Schwerin möchte Weltkulturerbe werden. Auf der Vorschlagsliste steht das Residenzensemble schon. Der Weg zum Ziel ist aber noch weit.