Sieben Kinder und Jugendliche der Tanzgruppe sitzen, zum Teil im Spagat, auf dem Boden. Hinter ihnen stehen sechs Jugendliche.
In der Mixed-Dance-Gruppe treffen Kinder und Jugendliche verschiedener Tanzstile aufeinander. Trainiert wird immer mittwochs, zwei Stunden lang.
29.06.2022

Tänze, die das Leben schreibt

Elina in einer Tanzszene.
Elina, ...
Katja beim Tanzen.
... Katia, ...
Lena beim Tanzen.
… und Lena tanzen seit sie klein sind. In der Ukraine werde jede Sportart wie im Profi-Bereich trainiert. „Zu Hause haben wir vier- bis fünfmal in der Woche trainiert.“ Nun nicht mehr so oft Training zu haben, sei eine große Umstellung.
Yulia sitzt auf dem Boden des Tanzraums.
Yulia unterrichtet an der Musikschule Ballett, Jazztanz, tänzerische Früherziehung und kreativen Kindertanz.

Musikschule Stralsund, ein Saal im ersten Stock. Ein Tastendruck am Rechner füllt den Raum mit Beats. Letzte Proben für den nächsten Auftritt der Mixed-Dance-Gruppe. Mit dabei: Lena, Elina und Katia. Drei Mädchen aus der Ukraine, die vor den Bomben in ihrer Heimat nach Stralsund geflüchtet sind. Und hier, an der Musikschule der Hansestadt, ihre Tanzlehrerin aus Kindertagen wiedertreffen. 

Wie beschreibt man Gedanken, für die es keine Worte gibt? Gefühle, die das Leben aus seiner Unbeschwertheit gerissen haben? Elina schließt für einen Moment die Augen. Die Musik setzt ein. Ihre Schritte nehmen sich allen Platz. Gleiten über die mit Tüchern angedeutete Bühne. Ihre Hände greifen sehnsuchtsvoll in den Raum. Ihre Blicke suchen verzweifelt. Kraftvolle Sprünge und Drehungen zeugen von Momenten des Glücks. Des Glücks der Vergangenheit. Vielleicht auch von dem Glück, von dem sie für die Zukunft träumt. 

Es ist ihre ganz persönliche Geschichte, die die 16-Jährige hier freestyle mit den anderen teilt. Die Geschichte eines jungen Mädchens, das bis vor wenigen Monaten lebt, wie junge Mädchen in Deutschland auch: Sie geht zur Schule, trifft sich mit Freunden, tanzt, ist verliebt. Dann fallen Bomben auf ihr Land. Sie flieht. Ihr Freund bleibt zurück. Die Gefühle, alle Sehnsucht und Hoffnung, legt sie in diesen Tanz, nennt ihn: „Du bist weit weg von mir.“

Der letzte Takt verklingt. Yulia Strensch-Karpovzeva nickt zufrieden, bittet Katia in die Mitte. Ihr Auftritt: ein Solo, das Elemente ukrainischer Volkstänze miteinander verbindet. Stolz, aufrecht und erhaben tanzt die 14-Jährige durch die musikalischen Traditionen ihrer Heimat. Und gibt dann die Bühne frei für Lena. Sie beginnt in einer Zwangsjacke, tanzt sich frei, wirft die Jacke am Ende kraftvoll zu Boden. 

Elina, Katia und Lena in ihrem Kurs zu haben, ist für Yulia eine besondere Konstellation. „Ich habe ihnen die ersten Schritte beigebracht.“ Als sie noch klein waren und Yulia selbst noch in der Ukraine lebte, bevor die Annexion der Krim Yulia 2014 mit ihrer Familie nach Stralsund vertrieb. 

Kasachstan. Russland. Ukraine. Deutschland. Ganz gleich, wohin das Leben sie verschlägt: Musik und Tanz begleiten Yulia auf allen Wegen. Zuerst in Rhythmischer Sportgymnastik. Später im Breakdance. Dann als Tanzlehrerin. In Stralsund gründet sie die internationale Tanzsportgruppe „Viva“. Seit 2018 unterrichtet sie an der Musikschule Ballett, Jazztanz, tänzerische Früherziehung und kreativen Kindertanz. 

Jeder Schritt erzählt eine Geschichte

Einmal pro Woche treffen sich rund 20 Kinder und Jugendliche verschiedener Kurse in der Mixed-Dance-Gruppe. Um zusätzlich Zeit beim Tanzen zu verbringen, sich auf Auftritte vorzubereiten. Solo. Im Duo. Zu dritt. Zu sechst. Jede Formation bewegt sich zu anderer Musik, anderen Tänzen, erzählt andere Geschichten. 

Ein Tastendruck am Rechner füllt den Raum erneut mit Beats. Jede Formation tanzt noch einmal vor Yulia an. Zu Hip-Hop. Klavierstücken. Popmusik. Bunte Tücher schweben. Zwei junge Frauen verleihen ihrem Stolz und ihrer Freundschaft Ausdruck. Gedanken tauchen in Unterwasserwelten. Elina, Katia und Lena zeigen noch einmal leichtfüßig den Ernst ihres Lebens. 

Yulias Kontakte in die Ukraine sind nie abgerissen. Als Russland die Ukraine angreift, bietet sie Hilfe an. Elina, Katia, Lena und ihre Familien nehmen sie an, kommen aus Krementschuk, einer zentralukrainischen Stadt am Dnepr, nach Stralsund. Auch die Musikschule der Hansestadt hilft, ermöglicht Kindern und Jugendlichen aus ukrainischen Flüchtlingsfamilien mit finanziellen Mitteln des Fördervereins und des Landes Unterricht. 

„Wir sind sehr dankbar über diese Möglichkeit“, betonen Elina, Katia und Lena. Zu tanzen gibt ihnen ein Stück Alltag zurück. „Wenn wir tanzen, lassen wir alle Emotionen raus. Dann ist unser Kopf frei.“ Frei von den Sorgen, die ihr Leben aus der Unbeschwertheit gerissen haben. Und denen sie auf dem Parkett nun kunstvoll Ausdruck verleihen.