17.04.2025

„Wir sind alle wahnsinnig verletzlich“

Katharins John steht Rücken an Rücken mit Manfred W. Jürgens. Im Hintergrund hängen Fotografien.
Fotografin Katharina John und Maler Manfred W. Jürgens verbindet ihre jahrelange Zusammenarbeit.

Fotografin Katharina John und Maler Manfred W. Jürgens zeigen ihre Arbeiten „Auf Augenhöhe“ auf Schloss Wiligrad. Mit Kultur-MV spricht Katharina John über Zusammenarbeit, Verletzlichkeit und den Ursprung jeder künstlerischen Arbeit.

Frau John, ich erreiche Sie gerade in Italien. Ihr Haus dort ist zurzeit eine Baustelle. Wie arbeiten Sie in diesem Trubel?

Katharina John (lacht): Ich habe den Bauarbeiter gebeten, wenigstens das Fenster freizumachen. Jetzt sehe ich wieder aufs Meer. Der Blick ist für mich wie ein zweites Atmen. Ich brauche dieses Licht, diese Weite. Das inspiriert mich – gerade jetzt, wo ich mit Ihnen über unsere Ausstellung spreche.

„Auf Augenhöhe“ ist der Titel Ihrer Zusammenarbeit mit dem Maler Manfred W. Jürgens auf Schloss Wiligrad. Wie kam es eigentlich zu dieser Kooperation?

Wir haben uns in Venedig kennengelernt – über meinen Mann Ulrich Tukur, den er mit seiner Band, den „Rhythmus Boys“, gerade porträtiert hatte. Manfred sah dort auch das erste Mal meine Fotografien. Das war der Anfang eines langen künstlerischen Austauschs. Unsere Medien sind unterschiedlich, aber es gibt eine gemeinsame Haltung. Wir interessieren uns für Menschen: für ihre Geschichten, ihre Gesichter, ihre Würde.

Sie arbeiten beide künstlerisch, aber in unterschiedlichen Medien. Wie unterscheiden sich Ihre Herangehensweisen konkret?

Ich mache einen Klick, er malt ein bis drei Jahre an einem Bild. Das ist der offensichtlichste Unterschied. Manfred arbeitet sehr präzise, fast altmeisterlich. Seine Malerei hat Tiefe, viele Schichten. Für ihn geht es unter anderem auch um den Rückzug aus der Schnelllebigkeit. Ich fotografiere analog, in Schwarzweiß, suche das Flüchtige, das Ungeplante.

Katharina John steht in einem Raum. Neben ihr sitzt ein Hund. An den Wänden hängen große Bilder. Die Bilder stammen von Maler Manfred W. Jürgens.
Fotografin Katharina John vor den Gemälden von Manfred W. Jürgens. Beide Kunstschaffende vereint ihre Liebe für das Porträt.

Trotz dieser Unterschiede scheint es auch eine starke Verbindung in Ihrer Arbeit zu geben. Was ist das Gemeinsame, das Sie beide antreibt?

Der Blick. Wir schauen auf Menschen – nicht von oben herab, sondern auf Augenhöhe. Es geht uns nicht um Inszenierung oder Status. Jeder Mensch hat eine Geschichte, auch wenn sie nicht laut ist. Unsere Porträts zeigen Menschen, die ein Geheimnis haben. Es gibt eine Verletzlichkeit, einen Moment des Schicksals, der durchscheint. Das wollen wir sichtbar machen. Manfreds Detailverliebtheit ist sein Sinn für Seelentiefe. Ich hingegen versuche die Seelentiefe in einem kurzen Augenblick zu erfassen. Auch auf die Gefahr hin, dass das Bild unscharf wird. Da ergänzen wir uns ganz prächtig.

Wenn Sie von diesen Momenten sprechen, klingt darin auch das Thema Vergänglichkeit an. Welche Rolle spielt das für Sie?

Das Thema Vergänglichkeit begleitet uns alle, auch wenn wir oft davor flüchten. Aber wir müssen uns der Tatsache stellen, dass wir alle sterblich sind. Die Kunst kann diese Tatsache nicht auflösen, aber sie kann einen ehrlichen Blick darauf werfen. Ich glaube, das ist eine der Aufgaben der Kunst: ehrlich zu sein, nicht zu beschönigen, nicht zu urteilen und trotzdem einen ästhetischen Rahmen dafür zu finden, dass alles zu Ende geht. Manfred und ich teilen dieses Bewusstsein für Vergänglichkeit. Wir arbeiten beide mit dem Blick durchs Schlüsselloch: Wir öffnen eine Tür, aber nicht mit Gewalt, sondern laden dazu ein, näher zu kommen.

Was passiert, wenn man sich auf diesen Blick einlässt?

Wenn man sich darauf einlässt, verschwindet die Distanz. Man sieht nicht mehr nur das Bild – man begegnet einem Menschen. Vielleicht erkennt man sich sogar selbst wieder, in einem Ausdruck, einem Blick, einer Geste. Diese Momente sind nicht laut, sondern leise, aber sie haben eine große Kraft. Und sie bleiben im Gedächtnis. Das hoffe ich zumindest.

Das Plakat zur Ausstellung. Das Plakat zeigt ein Mädchen. Der Titel der Ausstellung ist: Auf Augenhöhe.
Die gemeinsame Ausstellung auf Schloss Wiligrad bei Schwerin zeigt Fotografien von Katharina John und Arbeiten von Manfred W. Jürgens. Die Ausstellung eignet sich auch für Kinder.

Sie sprechen davon, nicht zu urteilen – das steckt auch im Titel der Ausstellung: „Auf Augenhöhe“. Welche Bedeutung hat dieser Titel für Sie persönlich?

„Auf Augenhöhe“ ist für mich weit mehr als nur ein Ausstellungstitel. Es ist eine Lebenshaltung. Es bedeutet, Menschen ernst zu nehmen, unabhängig von Herkunft, Alter oder Status. Und es heißt auch, sich selbst zurückzunehmen, um wirklich sehen zu können. In der Ausstellung nehmen wir diesePerspektive ganz wörtlich – auch die Augenhöhe von Kindern ist Teil davon. Die Ausstellung wird von zwei Mädchen, die wir beide porträtiert haben, eröffnet.

Wie setzen Sie diese Haltung in der Ausstellung konkret um?

Ein Beispiel dafür ist ein Stillleben von Manfred, das Pflanzen in Bodennähe zeigt. Die Bilder hängen nicht wie gewohnt an der Wand, sondern stehen auf dem Boden. Daneben liegen Kissen – eine stille Einladung, sich hinzusetzen und die Perspektive zu wechseln. Wer sich darauf einlässt, entdeckt vielleicht Details, die im Stehen übersehen werden. Es geht darum, sich einzulassen, langsamer zu werden und vielleicht auch einen kindlichen Blick wiederzuentdecken.

In Ihrer Fotografie spielt der Moment eine große Rolle. Wie finden Sie Ihre Motive – eher spontan oder geplant?

Tatsächlich gibt es bei mir beides. Zum einen arbeite ich wie „Street Photography“ Fotografen – es ist sehr spontan und unmittelbar. Es geht darum, den entscheidenden Moment zu spüren, bevor er vorbei ist. Zum anderen entstehen viele Porträts nach langen Gesprächen. Es braucht Vertrauen, um Nähe zu finden und zuzulassen. Beide Wege ergänzen sich und erfordern große Präsenz, aber sie beinalten auch das Risiko, eine Grenze zu überschreiten.

Frau John, Sie überlegen, in der Ausstellung auch ein Porträt Ihres verstorbenen Vaters zu zeigen. Wie ist dieses sehr persönliche Bild entstanden?

Das war eine ganz bewusste Entscheidung, kein Zufall. Ich habe meinen Vater, als er noch lebte, gefragt, ob es für ihn in Ordnung wäre, wenn ich ihn nach seinem Tod porträtiere. Er hat sofort Ja gesagt. Mein Vater war selbst Fotograf, für ihn war das kein Tabu. Er hatte vor Jahren seine eigene Mutter auf dem Totenbett fotografiert – mit großem Respekt. Diese Haltung hat mich sehr beeindruckt und vielleicht auch geprägt.

Wie haben Sie den Moment erlebt, in dem das Foto entstand?

Es war still. Sehr still. Ich habe ihm einen Schal umgebunden, den er immer trug. Es war wie ein letzter Gruß. Kein Inszenieren, kein Verstellen. Nur dieser eine Moment. Mein Vater war für mich in diesem Augenblick wie ein Stillleben des Schlafs. Keine Pose, keine Abwehr – nur Ruhe und stehende Zeit. Ich glaube, das ist mein persönlichstes Bild. Vielleicht auch mein wichtigstes.

Hat sich Ihre Sicht auf Fotografie durch dieses Bild verändert?

Diese Erfahrung war sicherlich besonders intensiv, aber meine Sicht auf die Fotografie hat sich dadurch nicht grundlegend verändert – vielmehr hat sie sich verdichtet. Fotografie kann bewahren, was eigentlich nicht festzuhalten ist. Sie ermöglicht Nähe, sogar über den Tod hinaus. Das Bild meines Vaters ist still und undramatisch, und doch trägt es alles in sich: Liebe, Abschied, Erinnerung, Würde.

Ein so persönliches Bild öffentlich zu zeigen, ist sicher eine besondere Entscheidung. Wie wäre es für Sie, dieses Bild in eine Ausstellung zu geben?

Es wäre tatsächlich nicht leicht, dieses private Bild mit der Öffentlichkeit zu teilen. Aber es fühlt sich richtig an. Ich glaube, viele Menschen finden sich in diesem Bild wieder – in der Trauer, in der Liebe, im Verlust. Und vielleicht spendet es auch Trost. Kunst ist immer persönlich, aber sie wird erst dann wirklich kraftvoll, wenn sie auch für andere eine Bedeutung bekommt.

Neben diesem Bild: Gibt es ein weiteres Porträt in der Ausstellung, das Ihnen besonders viel bedeutet?

Es gibt viele Porträts, die mir am Herzen liegen. Besonders berührt es mich aber, wenn sich jemand wirklich zeigt – wenn ich in einem Gesicht lesen kann: Da ist jemand, der ein Geheimnis hat und sich trotzdem öffnet. Das ist ein Geschenk, und ich hoffe, dass die Besucherinnen und Besucher genau das spüren werden.

Sie sprechen von Offenheit und Berührung. Was ist es, dass Sie als Künstlerin immer wieder antreibt? 

Es ist das Staunen. Ich glaube, der Ursprung allen künstlerischen Schaffens ist die Fähigkeit zu staunen.

Frau John, vielen Dank für dieses Gespräch.